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Wokeness: Die Bedrohung? Oder die Chance für echte Begegnung?

10. April 2025
Ingo
Persönliche Geschichten | Ressourcen & Bildung

Wokeness. Für manche ist es das Symbol einer gerechteren Zukunft. Für andere ein Kampfbegriff, der Meinungsfreiheit und persönliche Identität bedroht. Wenn Donald Trump sagt: „Unsere Nation wird nicht länger woke sein“, zeigt das, wie aufgeladen und politisiert der Begriff inzwischen ist. Auch in Deutschland gibt es Stimmen, die ein Ende politischer Korrektheit, das Aus für Gender-Sprache und den Verzicht auf „Cancel Culture“ fordern.

Woher der Begriff kommt

„Woke“ stammt aus dem afroamerikanischen Englisch und bedeutete ursprünglich: wachsam sein gegenüber Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit. Heute steht der Begriff für ein Bewusstsein gegenüber Diskriminierung, für Diversität, Inklusion, geschlechtergerechte Sprache und soziale Gerechtigkeit.

Es geht darum, unsere Gesellschaft menschlicher und gerechter zu gestalten. Nicht perfekt, aber mit ehrlicher Absicht.

Widerstand beginnt nicht nur im Großen

Der Widerstand gegen Wokeness beginnt nicht nur bei Politiker:innen oder in Talkshows. Er zeigt sich im Alltag – beim „Darf man ja wohl noch sagen!“ im Büro, beim Augenrollen über gendergerechte Sprache oder beim Unwohlsein gegenüber neuen Sichtweisen.

Es ist ein täglicher Kampf – auf beiden Seiten. Auch in den Chats unserer Communities.

Und genau da wird es kompliziert.

Wenn Wokeness zur Waffe wird

Auch Menschen, die aufklären wollen, können verletzen – mit Worten, mit Haltung, mit Überheblichkeit. Diese Form von Gewalt ist oft subtil:

  • Framing: „typisch alter weißer Mann“
  • Pauschalisierung: „Ihr denkt ja alle so“
  • Besserwisserei: ohne echtes Zuhören
  • Ego-Kampf statt Dialog
  • gezieltes Triggern: bis das Gegenüber „explodiert“ und sich selbst disqualifiziert

Ich kenne all das von mir selbst. Ich habe so gedacht, so gesprochen, so gehandelt. Ich kann nur über das schreiben, was ich selbst erfahren habe. Und ja, ich habe damit Menschen verletzt – und meinem eigenen Ziel, mehr Menschlichkeit in die Welt zu bringen, geschadet.

Diese Art von Kommunikation erzeugt Gegendruck. Oft nicht direkt, aber mit Nachwirkungen. Sie schafft Distanz, Misstrauen – und neue Fronten.

„Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind.“ (Gandhi)

Und oft ist es nicht einmal Auge um Auge. Jede schlechte Kommunikation, jede Demütigung, jeder überhebliche Kommentar kann Menschen radikalisieren, verletzen und Gräben vertiefen.

Was steckt hinter der Kritik an Wokeness?

Sie kommt nicht nur aus kalter Ablehnung. Oft steckt Unsicherheit dahinter:

  • das Gefühl, nicht mehr mitzukommen
  • Angst, etwas Falsches zu sagen
  • das Bedürfnis, verstanden zu werden
  • Scham, wenn man sich als „nicht aufgeklärt genug“ fühlt
  • Trotz, weil die eigene Identität hinterfragt wird

Kennen wir das nicht alle? Veränderungen fordern uns heraus. Ob bei der Einführung von PayPal, Smartphones, Social Media oder der Anschnallpflicht – vieles fühlt sich anfangs fremd an. Widerstand gehört dazu.

Ich selbst lehne bis heute Thermomix-Kochen ab, bin genervt von Reels auf Instagram. Früher hatte ich ablehnende Haltungen gegenüber Feministinnen oder homosexuellen Männern – beeinflusst von Vorurteilen in meinem Umfeld. Nicht alles davon ist logisch begründbar. Vieles davon liegt in meinen blinden Flecken – Bereiche, die ich (noch) nicht sehen kann. Und genau da versagt meine Selbstreflexion. Einige dieser Flecken spiegeln meinen Konservatismus wider. Gleichzeitig speist sich daraus auch mein Wunsch nach Zukunft und Veränderung. Beides – Konservatismus wie Fortschrittsdenken – kann nebeneinander existieren. Wichtig ist: dass der Mensch im Mittelpunkt bleibt.

Wenn mir jemand vorwirft, ich sei rückständig, nur weil ich keinen Thermomix will – dann fühle ich mich angegriffen. Und genau so fühlen sich viele, wenn sie in gesellschaftlichen Debatten pauschal bewertet werden. Der natürliche Reflex: Rückzug oder Gegenwehr.

Diesen Mechanismus tragen wir alle in uns.

Was können wir stattdessen tun?

  1. Zuhören, nicht urteilen. Wirklich zuhören. Erst verstehen, dann sprechen. Und nicht nur die Worte verstehen – sondern die Person dahinter. Ich bin der Meinung: Wir sind alle individuell. Warum sollte dann mein vermeintlicher „Gegner“ genauso sein wie die fünfzig davor (die auch auch nicht verstanden hab)?
  2. Nicht labeln. Keine Schubladen, keine Abwertungen. Ich mag es auch nicht, wenn ich irgendwo hineingesteckt werde, wo ich mich selbst nicht wiederfinde. Warum sollte ich das mit anderen machen?
  3. Individuell antworten. Nicht aus dem Argumente-Baukasten. Sonst wirkt es, als hätte ich kein echtes Interesse an der Person – und verliere damit die Verbindung.
  4. Dankbarkeit zeigen. Für ehrliche Meinungen, auch wenn sie unbequem sind. Ich weiß von mir selbst, wie schwer es ist, ehrlich zu sein – meine Meinungen offen zu legen. Weil sie immer auch eine Angriffsfläche sind, überrollt oder entwertet zu werden.
  5. Stille zulassen. Manchmal ist Schweigen klüger als das falsche Wort. Es schafft Raum für Reflexion – bei uns und bei anderen.

Vieles von dem, was ich hier schreibe, klingt vielleicht selbstverständlich. Und doch: Ich muss mir meiner Werte immer wieder bewusst sein. Auch Menschen, die Dinge tun, die ich für falsch oder menschenverachtend halte, handeln oft aus Unwissen oder aus psychologischer Prägung. Trotzdem haben sie ihre Würde – und verdienen, dass ich ihnen menschlich begegne.

Gleichzeitig darf ich Taten benennen, bewerten und ablehnen. Menschenwürde heißt nicht: alles dulden. Aber es heißt: nicht entmenschlichen. Auch nicht diejenigen, die in schwachen Momenten Erinnerungen an unsere Peiniger hervorrufen. Denn sie wirken für uns wie Täter:innen – und ich behandle sie oft genauso. Und damit führe ich genau das fort, was ich selbst beenden will. Ich reproduziere das Verhalten, das ich eigentlich ablehne.

Sie sind jedoch oft nur Spiegelbilder dessen, was an Verletzung noch in mir lebt.

Und ich scheitere an meinen eigenen Idealen. Es gibt Tage, an denen ich schwach bin – an denen ich aus dem Reflex heraus reagiere, statt achtsam zu handeln. Manchmal weiß ich es schon im selben Moment: „Hätte ich doch lieber geschwiegen.“ Und manchmal braucht es erst Zeit oder die Rückmeldung von außen, damit ich erkenne, dass mein Verhalten nicht dem entsprach, was ich mir von mir selbst wünsche. Diese Selbstreflexion tut weh. Aber sie ist notwendig. Und menschlich.

Das ist anstrengend. Es verlangt Kraft, Geduld und die Bereitschaft, nicht immer recht zu haben. Aber genau das ist Aufklärung: nicht das Rechthaben, sondern das gemeinsame Weiterdenken. Und auch in dieser Haltung fühle ich mich manchmal missverstanden – von Menschen, die mir nahe stehen. Mit dem Vorwurf, ich sei zu nachsichtig, würde mit dem „Feind“ kooperieren oder Täter:innen verteidigen.

Viele aus der Community sehen: Wokeness ist keine Bedrohung. Sie ist eine Einladung. Doch dafür brauchen wir die richtige Sprache – eine, die einlädt, nicht ausgrenzt. Und Menschen, die echten Dialog suchen – nicht einfach nur Recht behalten wollen.

Der echte Kampf findet nicht auf der Straße, in Wohnzimmern oder in Chat-Kommentaren statt. Sondern in uns selbst. Und diesen inneren Kampf tragen wir – oft unbemerkt – auch in die Chats der Community.

In meinem Ideal wünsche ich mir, diesen Kampf gar nicht erst führen zu müssen. Denn Kämpfen ist anstrengend.

Einen Kampf zu starten, dafür reicht oft eine Person. Um ihn zu beenden, braucht es mindestens zwei.

Ich möchte diese zweite Person sein – die, die die Hand ausstreckt. Ich habe keinen Einfluss darauf, ob sie angenommen oder weggeschlagen wird. Beides ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.

Wahrscheinlicher ist: Wir treten in einen neuen Dialog. Und vielleicht – nur vielleicht – entsteht daraus eine Einigung, die für beide Seiten den Kampf beendet.

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Autor*in

Ingo

Ingo (er/ihm) ist der Initiator der 6+ Community in Stuttgart. In Berlin erlebte er sexpositive Räume, in denen selbstbewusste, selbstwirksame und raumbewusste Personen lebten, die die Vielfalt der Menschen vollständig akzeptierten. Diese Räume zeichneten sich dadurch aus, dass das Setzen von Grenzen und das Akzeptieren eines "Nein" mit Leichtigkeit und in einer Atmosphäre der Unbeschwertheit geschah. Diese Basis schuf eine spürbare Sicherheit für alle Beteiligten. Diese Sicherheit ermöglichte es, dass aus den übereinstimmenden Bedürfnissen und Wünschen von zwei oder mehr Personen Situationen entstanden, die die schönsten zwischenmenschlichen Aktivitäten beinhalteten. Diese Aktivitäten konnten die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Menschen stillen und trugen zu einer glücklichen, entspannenden Atmosphäre bei, die zum Reflektieren, Ausprobieren neuer Dinge, voneinander Lernen und einfach nur Sein einlud. Aus dieser Erfahrung und unter Beibehaltung der Leichtigkeit und des sicheren Raumes speist sich seine Vision für die sexpositive Community. Diese soll eine bunte Vielfalt von Menschen beherbergen, die aus ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten voneinander lernen. So soll eine Community entstehen, in der verschiedene Kinks, Vorlieben, Identitäten und Gruppierungen nebeneinander existieren und Schnittmengen bilden können. Diese Einheit soll auf dem geteilten Menschenbild der feministischen Sexpositivität basieren.

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