Wie wir vergaßen, Mensch zu sein – und uns jetzt erinnern

23. September 2024
Ingo
Einstieg | Story

Es war einmal eine Zeit, in der die Menschheit in Einklang mit sich selbst und der Welt lebte. Sie verstanden ihre Bedürfnisse, wussten, wie sie sie stillen konnten, und kamen gut miteinander aus. Konflikte wurden gewaltarm gelöst, und das Leben war geprägt von Frieden. Menschen hatten Sex, lachten, liebten und genossen das Leben in seiner Fülle.

Doch dann passierte etwas, das niemand mehr genau nachvollziehen konnte. Eine kleine Gruppe begann, Macht über die anderen zu erlangen. Vielleicht hatten sie erkannt, dass sie die Bedürfnisse der anderen kontrollieren konnten. Sie lernten, wie man mit weniger Aufwand mehr Bedürfnisbefriedigung für sich selbst erzielen konnte. So begann das Feilschen und Handeln, sogar mit dem Bedürfnisgut Sex. Im Gegensatz zu heute geschah dies vielleicht sehr bewusst und gleichmäßig unter allen Menschen verteilt.

Doch der Frieden, der einst geherrscht hatte, geriet ins Wanken. Über die Jahrhunderte entbrannte ein Kampf, und am Ende triumphierten diejenigen, die körperlich überlegen waren. Sie stellten die Regeln auf, vereinten die Macht in ihren Händen und führten die Menschheit in eine neue Ära. Doch Macht ist verführerisch, und nicht alle konnten mit ihr umgehen. Einige begannen, sie zu missbrauchen – zunächst, um ihre grundlegenden Bedürfnisse zu stillen, doch schon bald verlangten sie mehr: mehr Güter, mehr Reichtum, mehr Wissen. Sie wollten immer mehr Macht.

Machtübernahme einer kleinen GruppeUm die Macht der Mächtigen weiter auszubauen, gerieten auch ehemalige Verbündete in die Unterdrückung. Und so kam es, dass das Merkmal der körperlichen Überlegenheit nur noch eines von vielen war, um die Machthierarchie zu beschreiben – wenngleich es immer noch ein starkes Merkmal blieb. Die Grenzen der Macht begannen sich zu verschieben, und selbst die körperlich Überlegenen teilten sich weiter auf – in diejenigen, die Macht geschickter, aber auch skrupelloser einsetzten als andere. Bis schließlich die scharfen Grenzen vollständig aufgelöst wurden, weil jeder gegen jeden kämpfte. So kam es, dass selbst die Gruppe der Unterdrücker zu den Unterdrückten wurde. Der Zustand war von einem Bewusstsein, das uns alle als voneinander abhängig erkannte, sehr weit entfernt.

Intrigen wurden gesponnen, Menschen erniedrigt, verunglimpft und unterdrückt. Der Kampf um die Macht führte dazu, dass diese Herrschenden nichts mehr mit dem friedlich lebenden Volk von einst gemeinsam hatten. In ihrem Streben nach Kontrolle vergaßen sie eine entscheidende Wahrheit: Die Menschen waren voneinander abhängig. Und als das Gleichgewicht kippte, wurde der Preis hoch. Menschen wurden verletzt, traumatisiert, getötet. Besonders in einem Bereich, in dem die Menschen am stärksten voneinander abhängig waren – dem Bedürfnis nach Nähe, Zuneigung und Sex. Die Mächtigen zwangen andere, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, oft ohne Einvernehmen.

Um diese Ungerechtigkeit zu vertuschen, wurden diese Themen immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Es schien, als wolle man sie verstecken, da man keine Lösung fand. Menschen schwiegen über ihre Bedürfnisse, aus Angst oder Ohnmacht. Sie versteckten sich hinter einer Mauer des Schweigens, in der Hoffnung, sicher zu bleiben.

Doch dann, in einer Zeit, die niemand wirklich erklären konnte, passierte erneut etwas Unerwartetes. Einige mutige und kluge Menschen erkannten die Ungerechtigkeit, die überall um sie herum herrschte. Sie sprachen darüber und erinnerten die Welt daran, dass wir alle voneinander abhängig sind. Jeder Mensch bringt etwas Einzigartiges in diese Welt, das andere nicht tun können. Diese Erkenntnis verlieh den zuvor Ohnmächtigen eine neue Art von Macht.

Einige begannen, andere darauf aufmerksam zu machen, dass sie für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse – ob Sex oder andere – immer auf mindestens eine weitere Person angewiesen waren. Einige dieser Menschen gingen sogar in den Streik, um ihre Rechte durchzusetzen. Das versetzte die Mächtigen in Angst, denn ihre scheinbar unerschütterliche Macht begann zu wanken. Sie hatten in einer Welt gelebt, in der sie glaubten, alles kontrollieren zu können, doch plötzlich stellten sich Menschen gegen sie, die sich nicht länger unterwerfen wollten.

Dieser Widerstand führte zu Veränderungen. Rechte wurden neu verteilt, Zugeständnisse gemacht, und ein kleines Stück der Ungerechtigkeit wurde behoben. Doch der Schaden an der Gesellschaft war groß. Die Menschen hatten vergessen, wie sie gut miteinander umgehen konnten, ohne Machtspielchen zu spielen.

Vielfalt und Konsens in Menschlichkeit

Aber auch in dieser schwierigen Zeit gab es Hoffnung. Verschiedene Gruppen begannen, die alten Werte und das Wissen über Menschlichkeit und Sexualität wiederzuentdecken. Die LGBTQIA+ Community zeigte der Welt, dass es mehr als nur Männer und Frauen gibt und dass romantische und sexuelle Gefühle in ganz unterschiedlichen Formen gelebt werden können – jenseits der klassischen Normen. Die Tantriker brachten Achtsamkeit für den eigenen Körper und dessen Bedürfnisse zurück. In der BDSM-Community erkannten Menschen, dass Macht nur dann Teil des Spiels sein kann, wenn beide Seiten bewusst und einvernehmlich zustimmen. Konsens wurde hier zum wichtigsten Grundsatz. Auch die Polyamorie-Community lehrte, dass Liebe und Beziehungen in vielen Facetten gelebt werden können – nicht nur zwischen zwei Personen. Und schließlich gab es die Sexarbeiter*innen-Bewegung, die für mehr Selbstbestimmung und Anerkennung im Bereich der sexuellen Arbeit kämpfte. Alle diese Gruppen brachten ein Stück Menschlichkeit zurück, indem sie uns daran erinnerten, dass Sexualität vielfältig, persönlich und frei sein sollte – solange sie auf Respekt, Konsens und Einvernehmen beruht.

All diese Strömungen führten zurück zu einem zentralen Thema: Menschlichkeit. Eine Menschlichkeit, die vor langer Zeit verloren gegangen war. Sie lernten, dass Menschlichkeit kein fester Zustand ist, keine einzige Art zu sein. Menschlichkeit ist ein Spektrum. Jeder Mensch ist wertvoll, weil er oder sie der Gemeinschaft etwas Einzigartiges bringt. So wurde Menschlichkeit neu definiert, als etwas, das wächst, sich verändert und immer neu entdeckt werden muss.

Und so begann die Menschheit, dieses neue Wissen miteinander zu teilen. Vielleicht, so dachten sie, könnte jeder von uns noch etwas lernen, das wir längst vergessen hatten. Vielleicht hatte jemand ein kleines Stück mehr für die eigene Definition von Menschlichkeit – und wer weiß, vielleicht auch für dich?

Autor*in

Ingo

Ingo (er/ihm) ist der Initiator der 6+ Community in Stuttgart. In Berlin erlebte er sexpositive Räume, in denen selbstbewusste, selbstwirksame und raumbewusste Personen lebten, die die Vielfalt der Menschen vollständig akzeptierten. Diese Räume zeichneten sich dadurch aus, dass das Setzen von Grenzen und das Akzeptieren eines "Nein" mit Leichtigkeit und in einer Atmosphäre der Unbeschwertheit geschah. Diese Basis schuf eine spürbare Sicherheit für alle Beteiligten. Diese Sicherheit ermöglichte es, dass aus den übereinstimmenden Bedürfnissen und Wünschen von zwei oder mehr Personen Situationen entstanden, die die schönsten zwischenmenschlichen Aktivitäten beinhalteten. Diese Aktivitäten konnten die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Menschen stillen und trugen zu einer glücklichen, entspannenden Atmosphäre bei, die zum Reflektieren, Ausprobieren neuer Dinge, voneinander Lernen und einfach nur Sein einlud. Aus dieser Erfahrung und unter Beibehaltung der Leichtigkeit und des sicheren Raumes speist sich seine Vision für die sexpositive Community. Diese soll eine bunte Vielfalt von Menschen beherbergen, die aus ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten voneinander lernen. So soll eine Community entstehen, in der verschiedene Kinks, Vorlieben, Identitäten und Gruppierungen nebeneinander existieren und Schnittmengen bilden können. Diese Einheit soll auf dem geteilten Menschenbild der feministischen Sexpositivität basieren.

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