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Verletzen & verletzt werden

28. Juni 2025
Ingo
Persönliche Geschichten

Verletzen & verletzt werden – Warum wir oft die Missstände reproduzieren, gegen die wir kämpfen wollen

Ich hab Ideale. Ich wünsche mir eine Welt, in der Menschen sich unvoreingenommen begegnen, zuhören, versuchen zu verstehen – statt sofort zu urteilen. Und trotzdem ertappe ich mich selbst immer wieder dabei, genau das Gegenteil zu tun.

Warum? Weil es menschlich ist. Unser Gehirn liebt Muster. Es sucht nach dem, was schon mal „gepasst“ hat. Ich sehe jemanden, rieche was, spüre was – und plötzlich kramt mein Inneres alte Erfahrungen hervor. Zack, Vorurteil. Und ja: oft genug bestätigt sich das auch. Und das fühlt sich dann „richtig“ an. Aber wenn ich ehrlich zu mir bin, ist es vielleicht nur in 50% der Fälle wirklich zutreffend. Die anderen 50% gehen verloren, weil ich gar nicht erst wirklich hingehört hab.

Und noch schlimmer: Wenn ich Fragen stelle, dann oft nicht neutral, sondern so, dass ich mich selbst bestätigt fühlen will. Und wenn jemand anders antwortet, denk ich schnell: „Der oder die hat durchschaut, was ich eigentlich testen wollte.“ Das Ganze kippt dann schnell. Die Person ist plötzlich auf einer Bühne, auf der sie nie stehen wollte. Und ich selbst – werde zum Gegenüber, das nicht zuhört, sondern prüft.

Ich hab bisher niemanden getroffen, der oder die da wirklich frei von ist. Auch in queeren oder feministischen Gruppen, in denen ich war, hab ich erlebt, wie mir – als männlich gelesene Person – Dinge unterstellt wurden, ohne dass jemand wirklich mit mir gesprochen hat. Ich war auf einmal Projektionsfläche. Meine Arbeit wurde bewertet, ohne angeschaut zu werden. Mein Geschlecht schien mehr zu zählen als mein Tun. Das tut weh. Und es grenzt aus.

Ein Beispiel: Ich arbeite an feministischen Themen. Und bekomme zu hören: „Was macht ein Mann im Impressum eines feministischen Projekts?“ Nicht von Menschen, die Feminismus nicht verstanden haben – sondern von gestandenen Aktivist*innen. Die Angst vor „dem nächsten cis-Hetero-Dude, der alles dominiert“ ergießt sich unausgesprochen über mich. Und ja, ich reagiere dann oft wütend. Arrogant. Laut. Nicht weil ich will – sondern weil ich mich verteidigen muss. Und genau das erfüllt dann wieder das Klischee, das man in mir sehen wollte. Es ist ein Teufelskreis.

Oder die queere & poly Gruppe, die sich zufällig zusammenfindet – nicht aus dem Wunsch nach einem Safe Space, sondern einfach, weil es der Moment so ergibt. Man spricht über Ausgrenzung, über Beleidigungen, Abwertung, die man als queere Person erfahren hat. Und dann kippt das Gespräch. Plötzlich geht’s um „die scheiß Heteros“, „die Monogamen, die’s einfach nicht checken“, und wieder ist da dieses Wir-gegen-die. Und mitten drin in diesem „Gespräch“ eine Hetero, cis, monogame Person. Ich glaube, viele von diesen Menschen haben selten mit reflektierten Heteros oder Monogamen gesprochen, die einfach sagen: „Cool, dass du für dich rausgefunden hast, dass du queer bist. Ich bin hetero (oder monogam), und das passt für mich – das ist ein Teil meiner Identität.“

Aber Identität entsteht oft nicht aus Erkenntnis – sondern aus Abgrenzung. Und das macht es so schwer, wirklich in Verbindung zu kommen.

Ich weiß um diese Mechanismen – bei mir und bei anderen. Und ich wünsch mir nur eines: Dass wir uns alle ein bisschen mehr bemühen, unser eigenes Verhalten zu reflektieren. Nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit ehrlichem Interesse. Ich träume von einer Welt, in der wir wirklich alle Platz haben. Ohne diese ewigen Machtkämpfe, Grabenkämpfe, Stellungskriege.

Ich bin müde vom Kämpfen. Zu viele Menschen haben in diesen Kämpfen psychisch, körperlich oder emotional gelitten. Auch ich.

Ich glaube: Nur wenn wirklich alle Stimmen gehört werden – auch die leisen, auch die unbequemen – kann sich etwas ändern. Ich verstehe mittlerweile auch, warum manche Männer sagen: „Das ist doch alles Quatsch.“ Auch wenn ich das nicht teile, kann ich emotional nachvollziehen, wie es dazu kommt.

Was wir geben, bekommen wir zurück. Und manchmal sind es gerade die, die am lautesten nach Gerechtigkeit rufen, die selbst am schärfsten austeilen. Ich übe mich aktuell in der Philosophie der Stoiker, lese Marcus Aurelius, suche bei Gandhi nach Antworten. Und manchmal führt das einfach dazu, dass ich still werde.

Nicht weil ich aufgegeben hab. Sondern weil ich nicht mehr gegen Windmühlen kämpfen will. Wenn meine Meinung sowieso nichts zählt, wenn ich nur der Typ bin, der „falsch“ ist – dann ist meine Energie vielleicht woanders besser aufgehoben.

Und das ist traurig. Denn es gibt so viel, das ich beitragen könnte. Aber nicht unter diesen Bedingungen – nicht mit Menschen, die durch ihr Verhalten genau das verhindern, was sie eigentlich wollen.

Ich bin voller Fragen. Ich hab keine Ahnung, wie ich mit all dem umgehen soll. Kaum bewege ich mich, kaum engagiere ich mich, stehen andere neben mir, die auch für ähnliche Themen kämpfen. Aber ich will nicht mehr kämpfen. Ich will gestalten, zuhören, verbinden – nicht streiten, nicht beweisen müssen, dass ich „dazugehöre“.

Mich dann von diesen Menschen zu distanzieren, fühlt sich wieder ausgrenzend an. Der Kreislauf dreht sich weiter. Und meine Gedanken dazu – sie sind so wenig linear, so schwer in Worte zu fassen. Chaos im Kopf. Gefühlte Widersprüche, die alle gleichzeitig wahr sind.

Und jetzt?

Ich weiß noch nicht, wo mich meine Reise hinführt. Aber gerade ziehe ich mich zurück aus Räumen, die sich für mich nicht mehr stimmig anfühlen. Nicht aus Trotz. Sondern aus Selbstschutz.

Das Grundproblem bleibt. In der Welt. Und auch in mir. Ich hab keine Lösung. Nur die Hoffnung, dass ehrliches Fragen, echtes Zuhören und weniger Bewertung irgendwann Wege öffnen, die wir jetzt noch nicht sehen. Vielleicht ist das ein Anfang. Oder einfach nur ein Zwischenstopp. Aber gerade fühlt sich Stillstand besser an als ständiger Kampf.

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Autor*in

Ingo

Ingo (er/ihm) ist der Initiator der 6+ Community in Stuttgart. In Berlin erlebte er sexpositive Räume, in denen selbstbewusste, selbstwirksame und raumbewusste Personen lebten, die die Vielfalt der Menschen vollständig akzeptierten. Diese Räume zeichneten sich dadurch aus, dass das Setzen von Grenzen und das Akzeptieren eines "Nein" mit Leichtigkeit und in einer Atmosphäre der Unbeschwertheit geschah. Diese Basis schuf eine spürbare Sicherheit für alle Beteiligten. Diese Sicherheit ermöglichte es, dass aus den übereinstimmenden Bedürfnissen und Wünschen von zwei oder mehr Personen Situationen entstanden, die die schönsten zwischenmenschlichen Aktivitäten beinhalteten. Diese Aktivitäten konnten die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Menschen stillen und trugen zu einer glücklichen, entspannenden Atmosphäre bei, die zum Reflektieren, Ausprobieren neuer Dinge, voneinander Lernen und einfach nur Sein einlud. Aus dieser Erfahrung und unter Beibehaltung der Leichtigkeit und des sicheren Raumes speist sich seine Vision für die sexpositive Community. Diese soll eine bunte Vielfalt von Menschen beherbergen, die aus ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten voneinander lernen. So soll eine Community entstehen, in der verschiedene Kinks, Vorlieben, Identitäten und Gruppierungen nebeneinander existieren und Schnittmengen bilden können. Diese Einheit soll auf dem geteilten Menschenbild der feministischen Sexpositivität basieren.

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