Situative Gefangenschaft – Warum du (noch) nicht das Leben lebst, das du eigentlich willst

4. August 2025
Ingo
Gesundheit & Wohlbefinden | Persönliche Geschichten

Situative Gefangenschaft – Warum du (noch) nicht das Leben lebst, das du eigentlich willst

Vielleicht kennst du das: Du hast eine Vorstellung davon, wie du leben willst – freier, liebevoller, sexpositiver, echter. Du hast sogar schon erste Schritte gemacht, dich informiert, ausgetauscht, vielleicht ein bisschen experimentiert. Doch dann – Stillstand. Auf dem Weg liegt ein kleiner Ast. Eigentlich nichts Großes jedoch es kommt die unüberwindbar vor. Aber du bleibst stehen. Du gehst nicht weiter.

Inspiriert wurde dieser Artikel von einer Folge des Podcasts „Der Stoiker in Dir – Dein Podcast für mehr Gelassenheit, Klarheit und emotionale Resilienz in einer hektischen Welt“.
Die Episode trägt den Titel: „Situative Gefangenschaft: Du suchst das Richtige – aber am falschen Ort!“ und hat mich sehr zum Nachdenken gebracht – und letztlich zum Schreiben dieses Textes bewegt.
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Dieser Ast ist eine Metapher. Für Hürden. Für Ängste. Für innere Barrieren. Für Privilegien, die man nicht abgeben will. Für Konditionierungen, die dich festhalten. Und genau hier kommt ein Konzept ins Spiel, das ich „situative Gefangenschaft“ nenne.

Was ist situative Gefangenschaft?

Situative Gefangenschaft beschreibt einen Zustand, in dem wir zwar theoretisch frei sind, praktisch aber blockiert bleiben. Die Fesseln sind nicht sichtbar – sie bestehen aus Ängsten, Erwartungen, Glaubenssätzen, Rollenbildern, Scham oder Selbstzweifeln. Obwohl keine äußeren Mauern da sind, spüren wir eine innere Mauer. Und so verharren wir – manchmal jahrelang – in Zuständen, die uns nicht guttun.


Wie zeigt sich das in der sexpositiven Welt?

Ich sehe es immer wieder. Menschen, die eigentlich eine offene Beziehung leben wollen, aber ihre Eifersucht nicht in den Griff bekommen. Oder die in Beziehungen bleiben, obwohl sie dort schlecht behandelt werden – weil sie Angst haben, allein zu sein, oder glauben, „nicht besseres verdient zu haben“.

Andere wiederum sehnen sich nach mehr Intimität, nach authentischer Sexualität oder Selbstentfaltung, aber sie können sich ihren Partner*innen nicht öffnen – aus Scham, aus Angst, verletzt zu werden oder „komisch“ zu wirken.
Manche entdecken ihre queere Identität, ihre Lust, ihre Andersartigkeit – und trauen sich trotzdem nicht, dazu zu stehen, weil sie Angst vor Ablehnung haben.

All das sind Formen von situativer Gefangenschaft.
Und sie sind verdammt schmerzhaft.

Dabei entsteht oft der Eindruck, dass das Umfeld schuld sei – Partner*innen, Gesellschaft, Familie, die Umstände. Und natürlich: All das spielt eine Rolle. Doch nicht selten übersehen wir dabei unseren eigenen Spielraum. Es ist, als würden wir uns selbst aus der Gleichung nehmen, unsere Möglichkeiten kleinreden und unsere Verantwortung abgeben – nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil es einfacher erscheint, sich machtlos zu fühlen, als den Schmerz einer aktiven Entscheidung zu spüren. Diese Form von innerer Selbstverneinung ist kein persönliches Versagen, sondern eine Schutzstrategie. Doch sie hält uns fest – manchmal sogar stärker als jede äußere Begrenzung.

Gerade wenn du dich in dieser Form der situativen Gefangenschaft wiedererkennst und vielleicht noch wenig Erfahrung mit persönlicher Entwicklung hast, ist es ein Akt der Selbstermächtigung, dir Unterstützung zu holen. Das kann ein Gespräch mit einer psychologischen Fachperson sein, ein Coaching, eine Beratungsstelle oder ein Workshop – je nachdem, was sich für dich stimmig anfühlt. Du musst diesen Weg nicht allein gehen. Auch das ist Selbstbestimmung: sich Hilfe zuzugestehen und sie aktiv in Anspruch zu nehmen.

Dabei ist es wichtig, zwischen inneren Barrieren und realen äußeren Begrenzungen zu unterscheiden: Es gibt tatsächliche Gefangenschaften – etwa in gewaltvollen Beziehungen oder in existenziell bedrohlichen Lebenssituationen. Hier braucht es gezielte Unterstützung – durch staatliche Hilfen, durch Justiz, durch Schutzräume. Wenn du dich in so einer Situation wiederfindest, findest du erste Anlaufstellen in unserer Notfall‑Kontaktliste oder über eine gezielte Google-Recherche nach Hilfsangeboten in deiner Region.

Auch ein Blick in die Philosophie lohnt sich: Schon die antiken Stoiker – in der griechisch-römischen Tradition – haben sich intensiv mit dem Verhältnis von äußerer Unfreiheit und innerer Freiheit beschäftigt. Ihre Gedanken haben mir persönlich geholfen, mein eigenes Leben neu zu betrachten. Denn oft sind es nicht die Ketten von außen, die uns aufhalten – sondern die in uns.


Warum bleiben wir dort?

Weil Entwicklung Risiken birgt. Veränderung ist unbequem. Und manchmal fühlt sich der Status quo – so unbefriedigend er auch ist – sicherer an als das Unbekannte.
In meinem eigenen Leben war ich wohl die Person, die diese Gefangenschaft am längsten ertragen hat. Ich habe so viel unterdrückt, mich so sehr angepasst und verbogen – bis ich nicht mehr konnte.
Bis ich einen Herzinfarkt hatte.

Ab da hatte ich keine Wahl mehr. Mein Körper hat für mich entschieden. Die Veränderung, die ich zuvor aus Angst immer wieder verschoben habe, wurde plötzlich überlebensnotwendig. Die Kosten, nicht zu wachsen, waren auf einmal höher als die Kosten der Veränderung.


Aber es muss nicht so weit kommen.

Du darfst dich fragen:

  • Was will ich wirklich?
  • Was hält mich davon ab, es zu leben?
  • Welche meiner Ängste sind real – und welche sind Worst-Case-Szenarien, die in meinem Kopf entstehen?

Stell dir den schlimmsten Ausgang deiner Veränderung vor. Male ihn dir aus. Dann male dir das schönste mögliche Ergebnis aus. Wahrscheinlich liegt die Realität irgendwo dazwischen.
Und dann: Mach es trotzdem.


Du hast nur dieses eine Leben. Mach es zu deinem.

Dieses Leben ist ein Geschenk. Du darfst es gestalten. Du darfst Fehler machen und daraus lernen. Du darfst auf Erfahrungen zurückblicken, von denen du weißt: Das war nichts für mich – aber ich habe es versucht.

Was schmerzt mehr?
Ein ehrliches Scheitern – oder der Gedanke: Was wäre gewesen, wenn…?

Also: Wage es. Heute. Nicht morgen.
Denn ja – da draußen lauern Herausforderungen, Tränen, Konflikte. Aber auch Freiheit. Nähe. Ekstase. Selbstvertrauen. Und das großartige Gefühl, dir selbst treu zu sein.

Ich selbst habe inzwischen viele dieser Wege beschritten. Nicht fehlerfrei. Nicht immer mutig. Aber Schritt für Schritt. Und mit jedem Schritt ist mein Vertrauen gewachsen, dass ich – was auch immer kommt – damit umgehen kann. Vielleicht nicht perfekt beim ersten Versuch. Aber dafür gibt’s ja noch einen zweiten. Und einen dritten.


Trau dich.

Nicht weil es leicht wird. Sondern weil du es dir wert bist.

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Autor*in

Ingo

Ich bin Ingo (er/ihm) und Initiator der 6+ Community in Stuttgart. Die Idee dazu entstand aus meinen eigenen Erfahrungen: In Berlin habe ich sexpositive Räume kennengelernt, in denen Menschen auf selbstbewusste, raumbewusste und respektvolle Weise miteinander umgingen. Besonders beeindruckt hat mich, wie leicht und selbstverständlich dort Grenzen kommuniziert und akzeptiert wurden – ein „Nein“ war kein Bruch, sondern Teil eines ehrlichen, achtsamen Miteinanders. Diese Atmosphäre war für mich gleichzeitig leicht, verbindend und sicher. Was ich hier teile, hat keinen wissenschaftlichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Ich schreibe aus meinem Erleben, nicht aus dem Anspruch, alle Perspektiven oder systematischen Zusammenhänge vollständig durchdrungen zu haben. Mir ist bewusst, dass persönliche Erfahrungen nicht gleichzusetzen sind mit statistischer Evidenz oder universellen Wahrheiten – und trotzdem sind sie echt. Auch dann, wenn sie scheinbar im Widerspruch zu wissenschaftlichen Aussagen stehen. Ich freue mich, wenn du mich auf problematische Verallgemeinerungen hinweist – ich lerne gern dazu. Und gleichzeitig ist es Teil meiner Lebensrealität, dass ich bestimmte Dinge so erlebt habe. Das ist die Basis meiner Arbeit und meines Engagements: Räume zu gestalten, in denen Vielfalt gelebt wird, wo Menschen voneinander lernen, sich ausprobieren und einfach sie selbst sein können. Meine Vision für die sexpositive Community ist kein fertiges Konzept, sondern ein offener Prozess. Inspiriert von einem feministischen, menschenfreundlichen Verständnis von Sexualität – bewusst, einvernehmlich, reflektiert. Dabei geht es für mich nicht nur um Freiheit, sondern auch um Verantwortung: für sich selbst, füreinander und für die Räume, die wir gemeinsam schaffen.

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