Das Paradoxon der Toleranz – Gewaltspiralen, Grenzen und Menschlichkeit
Vor kurzem stieß ich in einem Video auf Karl Poppers berühmte Überlegung zum Paradoxon der Toleranz. Obwohl das Video eigentlich nichts mit unserem Themenfeld zu tun hatte, hat mich dieser Gedanke nicht mehr losgelassen – gerade, weil wir ähnliche Fragen in sexpositiven und gesellschaftlichen Kontexten immer wieder erleben.
Popper: Warum Toleranz Grenzen braucht
Karl Popper formulierte in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945):
„Uneingeschränkte Toleranz muss zum Verschwinden der Toleranz führen. Wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaft gegen den Ansturm der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden, und mit ihnen die Toleranz.“
Sein Gedanke: Toleranz darf nicht grenzenlos sein. Wo Intoleranz in Gewalt oder Unterdrückung umschlägt, muss die Gesellschaft eingreifen.
Gewalt – mehr als nur körperlich
Doch wo genau verläuft die Grenze? Hier hilft ein genauerer Blick auf Gewalt.
Für mich ist Gewalt nicht nur körperlich:
- Auch Beschimpfungen sind Gewalt. Selbst subtile Varianten wie „du bist dumm“ können verletzen.
- Und sogar Gesangschöre auf Demonstrationen, wie sie etwa von der Antifa genutzt werden, empfinde ich manchmal als gewaltvoll. Sie sind als Mittel des Zusammenhalts gedacht, wirken auf mich aber wie ein akustischer Machtakt, der den Dialog übertönt.
Das zeigt: Gewalt hat viele Formen – subtil und offen, symbolisch und körperlich.
Gewaltspiralen
Und genau hier beginnt das Problem: Gewalt erzeugt Gegengewalt.
Eine Beleidigung kann mit einer härteren Reaktion beantwortet werden – zum Beispiel, wenn auf verbale Herabwürdigung physische Aktionen folgen, wie das Verbrennen einer Regenbogenfahne. So entstehen Gewaltspiralen:
👉 Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten.
Das gilt nicht nur im Politischen, sondern auch in persönlichen Beziehungen. Wer einmal genau hinschaut, erkennt: In manchen ungesunden Beziehungen, die von Gewalt geprägt sind, haben wir selbst einen Anteil daran, weil wir zu lange in der Dynamik geblieben sind oder eigene Grenzen nicht klar benannt haben. Das heißt nicht, dass Schuld gleichmäßig verteilt wäre – aber Reflexion über den eigenen Anteil hilft, aus Gewaltspiralen auszusteigen.
Beispiele aus der Community
Diese Dynamik zeigt sich auch in unseren eigenen Räumen:
- Seminare nur für Jüngere wurden von älteren Menschen als diskriminierend empfunden.
- FLINTA-Räume* (Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen) wurden ähnlich von Männern* kritisiert, die dort keinen Zutritt haben.
Hier finde ich wichtig zu verstehen: Solche Schutzräume braucht es, damit die jeweiligen Gruppen ihre Erfahrungen sicher teilen können – und das wiederum stärkt das Miteinander in der Gesamtgesellschaft.
Wie diese Personen dann in der Gesamtgesellschaft mit mir auskommen, habe ich ja letztlich selbst im Griff – durch meine bewusst gewählten Worte und Handlungen. Wobei: Bei vielen, die großen Wert auf ihre Intelligenz und ihre „offenen Werte“ legen, sind diese Worte und Handlungen gar nicht so bewusst und gewählt, sondern oft eher unbewusst und reaktiv.
Ein schwerwiegenderes Beispiel:
- Transfeindliche Aussagen in Berührungsseminaren. Cis-Männer wollten eine Übung nicht mit einer trans Person machen – und drückten das auf eine herabwürdigende Art aus.
Hier zeigt sich klar, wie Intoleranz Grenzen überschreiten und Menschen in ihrer Würde verletzen kann.
Drei Antworten auf das Dilemma
Philosophie und Sozialwissenschaft geben uns dazu verschiedene Ansätze:
- Grenzen ziehen – aber Gesprächsraum offenlassen.
Popper selbst: Intoleranz widerlegen, solange Gespräch möglich ist. Ausschluss erst bei Gewalt. - Schützende Ausgrenzung.
Wer andere verletzt, beleidigt oder bedroht, muss gehen – zum Schutz der Gemeinschaft. - Transformation durch Begegnung.
Sozialpsychologische Forschung (z. B. Allports „Kontakthypothese“) zeigt: Vorurteile schwinden eher durch echte Begegnungen. Aber nur, wenn das freiwillig und sicher geschieht.
Gandhi: Gewaltfreiheit ist aktiver Widerstand
Für Gandhi war Gewaltfreiheit kein passives Erdulden, sondern ein aktiver Widerstand, der Grenzen zieht, ohne die eigene Menschlichkeit zu verlieren.
Mit „Menschlichkeit“ meinte Gandhi das Festhalten an den eigenen Werten, am Respekt vor dem Gegenüber – auch wenn man dessen Taten entschieden bekämpfen muss. Meine Definition wäre: Stehen zu meinen Werten und zu meiner Vision vom zwischenmenschlichen Zusammenhalt. Genau darin liegt die eigentliche Kraft der Gewaltfreiheit.
Grenzen und Menschlichkeit
Toleranz bedeutet nicht, dass es keine Grenzen gibt. Jede Person hat das Recht, für sich selbst zu entscheiden, wo Nähe und Distanz liegen – körperlich, emotional oder im Gespräch.
Ein Beispiel: Ich darf frei bestimmen, mit wem ich Körperkontakt haben möchte und mit wem nicht. Diese Entscheidung braucht keine Begründung. Auch eine Nachfrage nach „Warum?“ kann bereits eine Überschreitung sein. Denn die persönliche Grenze ist in sich gültig.
Natürlich kann es sinnvoll sein, sich selbst zu hinterfragen: Woher kommt meine Grenze? Entspringt sie eigenen Bedürfnissen – oder speist sie sich aus Vorurteilen, etwa aus früheren negativen Erfahrungen, die ich unbewusst auf andere übertrage, oder aus gesellschaftlich erlernten Mustern wie Homophobie, Sexismus, toxische Männlichkeitsideale oder Ängste wie dem Absturz in einer sozialen Hierarchie?
Doch egal, wie die Reflexion ausfällt: Die Würde des anderen bleibt unantastbar – und genauso die eigene. Die Grenze einer Person ist in Ordnung, solange sie nicht die Menschlichkeit des Gegenübers verletzt.
Notwendige Gewalt – das letzte Mittel
Bis hierhin stimmen mir vermutlich viele Pazifist:innen zu. Aber ich frage mich – und würde das gerne auch Gandhi selbst fragen – ob ich mit folgendem Gedanken falsch liege:
Ich glaube, dass wir die Bereitschaft zur Gewalt nicht vollständig verlieren dürfen.
Denn manchmal reichen Worte nicht mehr. Wenn die Gewaltspirale so weit eskaliert ist, dass Sprache keinen Raum mehr findet, braucht es Gewalt, um Menschen voneinander zu trennen oder sie zu schützen. Diese Gewalt ist nie die Lösung selbst – aber sie schafft den Raum, in dem danach Gespräche und Heilung möglich werden.
Damit das nicht selbst wieder Teil der Spirale wird, muss Gewalt weise eingesetzt werden:
- Immer nur soweit, wie es zum Schutz notwendig ist.
- Nie aus Rache oder Vergeltung – das würde nur neue Gewalt erzeugen.
- Und immer im Bewusstsein der eigenen Grenze: Gewalt darf nicht die eigenen Werte zerstören.
Ich stelle mir dabei einen weisen Meister vor, der eine gewaltvolle Person daran hindert, ihre Gewalt auszuüben. Er setzt nur so viel Kraft ein, wie nötig ist, um die Situation zu stoppen – und bleibt dabei seinen eigenen Prinzipien der Gewaltlosigkeit treu.
Fazit
Das Paradoxon der Toleranz erinnert uns daran:
- Toleranz braucht Grenzen.
- Gewalt hat viele Formen – und sie erzeugt Gegengewalt.
- Schutzräume sind keine Diskriminierung, sondern Voraussetzung für Miteinander.
- Grenzen schützen Menschlichkeit – die eigene und die der anderen.
- Und manchmal ist sogar notwendige Gewalt nötig, um diese Menschlichkeit zu verteidigen – weise eingesetzt, als letztes Mittel, ohne Rache, und mit dem Ziel, danach wieder ins Gespräch zu kommen.