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Das Dilemma des stummen Mannes

20. Mai 2025
Ingo
Persönliche Geschichten

Das Dilemma des stummen Mannes

Es gibt ihn, diesen Mann, der schweigt. Der viel fühlt, aber wenig sagt.

Etwas hat sich verändert in der Welt. Viele spüren das – auch Männer, die lange geschwiegen haben.
Sie hören zu, stimmen vielem zu, wollen mitreden. Aber wenn sie sprechen, fehlen ihnen die Worte.
Denn das haben sie nie gelernt: Wie man über Schmerz redet, ohne sich bloßzustellen. Wie man Gefühle äußert, ohne gleich als „schwach“ zu gelten.
Das ist das Dilemma: reden wollen – aber nicht wissen wie.

Der stumme Mann hört zu, nickt innerlich oft mit – vielleicht, weil er das alles kennt. Vielleicht, weil es in ihm selbst längst gärt. Vielleicht kennt er das Gefühl, etwas sagen zu wollen – aber die Worte fehlen ihm.

Denn Sprechen ist Übungssache. Wir sagen etwas – und merken erst dann, ob es das war, was wir eigentlich ausdrücken wollten. Gerade Männer, die nie gelernt haben, sich verletzlich zu zeigen, stolpern hier.
Sie wollen das Richtige sagen – aber ohne Übung klingt das Richtige oft wie das Falsche.
Und so entsteht aus gut gemeintem Sprechen ein neues Missverständnis. Das Dilemma verschärft sich.

Frei nach dem Motto:

„Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?“

Bei Themen, die besonders nah gehen, steigt er manchmal ein. Denn er hat selbst Erfahrungen gemacht. Aber diese finden im aktuellen Diskurs kaum Platz.
Die, die gerade sprechen, haben vielleicht andere Geschichten – und so bleibt seine unausgesprochen.
Das fühlt sich verletzend an. Nicht gesehen zu werden, mit dem, was wehgetan hat.
Also geht er in den Widerstand. Er wehrt sich. Nicht, weil er kämpfen will – sondern weil er nicht weiß, wie er anders gehört werden kann.
Ihm fehlen die Worte für das, was in ihm brennt. Und was bleibt, ist ein Gefühl von Hilflosigkeit im eigenen Ausdruck.
Es ist nicht die Lautstärke, die schreit – es ist die Ohnmacht.

Was er sagt, kommt oft kantig, ungeschliffen.
Und was bleibt, ist der Eindruck: Er wird dafür zerrissen, was er eigentlich nur in Worte fassen wollte – seinen Schmerz, seinen Wunsch nach Dazugehören, nach Anerkennung.

Was er möchte: gesehen werden.
Mit seinen Erfahrungen, seinen Verletzungen.
Einfach das Gefühl, dass es nicht okay war, wie mit ihm umgegangen wurde.
Einfach zu wissen: Ich darf Teil dieser Gesellschaft sein. Ich darf sie mitgestalten.

Doch manchmal werden genau diese unbeholfenen Worte genutzt, um ihn bloßzustellen. Er wird geframet, interpretiert, in Schubladen gepackt – zu etwas gemacht, das seinem inneren Wertesystem gar nicht entspricht.

Manche Männer entscheiden sich dann, laut zu werden.
„Aktiv“ im Sinne von Angriff. Denn das haben sie gelernt: Angriff schützt den Selbstwert.
Doch in heutigen Räumen, wo Frauen – und andere marginalisierte Gruppen – längst geübt und klar im Ausdruck sind, funktioniert Lautstärke nicht mehr.
Sie wirkt unangebracht.
Außerdem sprechen die gesellschaftlichen Fakten meist für die andere Seite.

Andere Männer werden leiser. Ziehen sich zurück.
Manche tragen alte Glaubenssätze in sich: „Du bist ein Mann – halt dich raus, steh nicht im Weg.“
Sie beobachten, wie andere Männer für ihre Versuche, sich auszudrücken, „verbal verprügelt“ werden – und ziehen sich noch weiter zurück.
Ohnmacht macht sich breit.

Und in dieser Ohnmacht taucht dann vielleicht ein Alphamann auf, der verspricht: „Du kannst wieder Dominanz lernen.“
Verlockend. Für mich war es das damals auch.
Denn mein Bedürfnis nach Würde und Respekt war groß.
Dieser Ausweg hatte aber einen bitteren Beigeschmack.
Ich wusste, dass es eigentlich nicht der richtige Weg war. Und trotzdem hat er mich fasziniert und umgetrieben.

„Und vielleicht spreche ich hier längst nicht mehr von irgendwem. Vielleicht rede ich von mir.“
„Ich war beides.“

Zuerst der, der laut wurde. Der aufstand: „Hey, ich hab auch was erlebt, das war nicht okay!“
Aber ich drückte es falsch aus. Ich stellte meine Erfahrungen als allgemeingültig dar – weil ich keine Sprache für das „Ich“ hatte.
Ich konnte nur im „Wir“ sprechen, weil mir niemand beigebracht hatte, dass mein persönliches Erleben reicht.
Auch das ist Teil des Dilemmas: sich nur über Allgemeinplätze äußern zu können – weil man sich selbst nie wirklich gehört hat.
Ich glaubte: Wir sind doch alle gleich, machen ähnliche Erfahrungen.
Dass das nicht so ist, wurde mir erst durch meine Psychotherapie klar.

In der Therapie lernte ich, dass mir jemand einfach nur zuhört.
Meine Therapeutin hatte viel Arbeit damit, mich zu mir selbst zurückzuführen.
„Sprich von dir“, spiegelte sie mir immer wieder.
Auch mein Bruder hatte es mal gesagt – nur war ich damals nicht bereit, es zu hören.
Er wurde wütend und sagte: „Bleib doch mal bei dir.“
Damals war Verallgemeinerung mein Weg, um den Schmerz kleiner zu machen.
Ich wollte nicht fühlen, was wirklich passiert war.

Und dann kam der Wendepunkt.
Ich hatte das Glück, eine Therapeutin zu haben, die mir half, hinzusehen.
Mir einzugestehen:
Ich wurde ungerecht behandelt.
Ich wurde entmenschlicht.
Ich habe Traumata erlebt.
Ich trage Wunden.

Es gibt in unserer Kultur – und auch in anderen – das Ideal des Kriegers, der kämpft bis zum Letzten.
Aber es gibt auch den Mechanismus, Verletzungen zu verdrängen, um weiter zu funktionieren.

Genau das war ich: ein Krieger, der kämpfte.
Ehrenhaft. Unermüdlich.
Bis er nicht mehr laufen konnte.
Bis er kaum noch für sich sorgen konnte.
Voller Wunden – und doch weiter im Kampf.

Und genau das bin ich gewesen.
Dank meiner Therapeutin durfte ich hinschauen.
Eine Wunde nach der anderen.
Nicht der Krieger, den ich mir vorgespielt hatte, hatte diese Erfahrungen gemacht – sondern ich.
Ich hatte sie gemacht.

Mein Weg da raus

Ich war lange damit beschäftigt, mich wiederzufinden. Und das im wahrsten Sinne des Wortes:
Mich selbst zu sehen – nicht das Bild, das ich von mir hatte.
Meine Verletzungen wahrzunehmen.
Aber auch hinzuschauen, was ich anderen angetan habe.
Welche Wunden ich im ständigen Kampf des Lebens verursacht habe.

Irgendwann begannen die Kämpfe in mir selbst.
Ich wurde verletzt – also habe ich verletzt.
Aber war das richtig?

Ich habe Menschen verletzt. Und ich wurde verletzt.
Beides ist nicht okay. Und es ist nicht miteinander aufzurechnen.
Trotzdem habe ich es versucht – aus Selbstschutz. Um mich selbst nicht zu verlieren.
Ich wollte irgendwie rechtfertigen, was ich gesagt oder getan hatte:
Ein verletzender Satz hier, ein abwertender Blick da.
Eine Erniedrigung. Eine angedeutete körperliche Drohung….
Ich hatte früh gelernt, wie unsere Gesellschaft funktioniert – wie ich bekomme, was ich brauche.
Auch wenn andere gerade nicht bereit waren, es mir zu geben.
Und ich habe diese Dynamik selbst erlebt – von Männern wie von Frauen.

Das Reden darüber hat mich verändert.
Es hat mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen – und bei mir zu bleiben, wenn ich spreche.
Ich lernte, meine Erfahrungen zu benennen, ohne sie zu verallgemeinern.
Und ich machte erste Erfahrungen damit, dass das okay ist.
Dass Menschen mir glauben. Dass sie Anteil nehmen – ohne mich kleinzumachen.
Dass echtes Zuhören möglich ist, ohne Erniedrigung.

Natürlich bin ich auch mal mit einem „blauen Auge“ aus Gesprächen rausgegangen –
wenn ich an meine Grenzen kam, an Punkte, wo ich noch etwas zu lernen hatte.
Und ich hatte das Glück, von starken Menschen umgeben zu sein, die mir ehrliches, klares Feedback gegeben haben.
Ab da konnte ich anfangen, daraus zu lernen.
Ich konnte selbst reflektieren: Wo habe ich vielleicht Grenzen überschritten?
Und ich konnte entscheiden, ob ich das will – oder nicht.

Oft waren diese Grenzen absolut berechtigt. Und ich bin zu weit gegangen.
Aber dann kam ein neuer Abschnitt.

Ich merkte, dass es auch Situationen gibt, in denen die Grenzen anderer nicht mit meinen Werten vereinbar waren.
Dass ich sie respektieren konnte
aber trotzdem für mich zum Schluss kam:
„Diese Situation, diese Konstellation, tut uns beiden nicht gut.“
Und das ist okay.

Das ist das Prinzip von Konsens:
Wenn wir kein gemeinsames Ja finden, gehen wir getrennte Wege.
Auch das kann respektvoll sein.

Ab da fühlte ich mich auf Augenhöhe –
mit Feminist*innen, mit Frauen, die klar wussten, wofür sie stehen.
Die sich ausdrücken konnten, kraftvoll, sicher, zu Recht.
Ich bin vielleicht nicht so wortgewandt wie manche von ihnen –
aber ich weiß heute, was meine Werte sind.
Und ich kann zu mir stehen.
Etwas, das ich früher nicht konnte.

Heute brauche ich keine Alpha-Menschen mehr, die mir versprechen, „wieder Dominanz lernen“ zu können.
Oder habe ich sie vielleicht doch gelernt – nur ganz anders?

Ich habe gelernt:
– dass ich Verletzungen habe und hatte.
– dass ich lieber weggeschaut habe, als wirklich hinzusehen.
– dass genau dieses Wegschauen – und das ständige Verallgemeinern – mich von mir selbst getrennt hat. Und mich einsam gemacht hat.
– dass Menschen Grenzen haben.
– dass ich Grenzen habe.
– dass es okay ist, getrennte Wege zu gehen.
– und wie schön es ist, wenn jemand ein Stück des Weges mit mir gemeinsam geht.

Ich bin froh, dass ich heute nicht mehr über ‚den Mann‘ sprechen muss, sondern über mich. Und das reicht – weil ich gelernt habe, dass mein Erleben zählt.
Dass ich nicht laut oder dominant sein muss, um gehört zu werden.
Ich habe mir selbst eine Sprache gegeben. Und damit mein Schweigen durchbrochen.
Und dieser Weg war nicht leicht.
Aber ich bin ihn gegangen.
Darauf bin ich stolz. Und ich finde: Jede*r, der oder die diesen Weg geht, darf das auch sein.

Unterwegs hatte ich Mentorinnen – manche sichtbar, manche nur für einen Moment.
Einige waren Begleiter
innen, andere eher Lernstationen.
Manche kamen mit offenen Herzen.
Andere fühlten sich wie ein Felssturz an, der mich überrollt hat – unangekündigt, schmerzhaft.
Aber gerade sie haben mir meine Werte gezeigt.
Und meinen Wert.

Nicht, weil sie es mir erklärt haben.
Sondern weil ich ihn spüren musste.
Weil ich lernen musste, für mich einzustehen – ohne dabei über andere drüberzugehen.
Weil ich gelernt habe, dass mein Weg nicht besser oder richtiger ist. Nur eben: meiner.

Und das reicht.
Ich muss heute niemandem mehr beweisen, dass ich ein Mann bin. Häufiger jedoch noch, dass ich ein Mensch bin.
Oder dass ich stark bin.
Ich bin einfach ich. Und das ist genug.

Das Dilemma war nie, dass ich nichts zu sagen hatte – sondern dass ich nicht wusste, ob ich sagen durfte, was ich fühlte.

Es gibt ihn, diesen Menschen, der männlich sozialisiert wurde, und heute spricht Und heute bin ich das selbst.
Und ich wünsche mir, dass noch viele ihre Stimme finden – auf ihre ganz eigene Art.

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Autor*in

Ingo

Ingo (er/ihm) ist der Initiator der 6+ Community in Stuttgart. In Berlin erlebte er sexpositive Räume, in denen selbstbewusste, selbstwirksame und raumbewusste Personen lebten, die die Vielfalt der Menschen vollständig akzeptierten. Diese Räume zeichneten sich dadurch aus, dass das Setzen von Grenzen und das Akzeptieren eines "Nein" mit Leichtigkeit und in einer Atmosphäre der Unbeschwertheit geschah. Diese Basis schuf eine spürbare Sicherheit für alle Beteiligten. Diese Sicherheit ermöglichte es, dass aus den übereinstimmenden Bedürfnissen und Wünschen von zwei oder mehr Personen Situationen entstanden, die die schönsten zwischenmenschlichen Aktivitäten beinhalteten. Diese Aktivitäten konnten die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Menschen stillen und trugen zu einer glücklichen, entspannenden Atmosphäre bei, die zum Reflektieren, Ausprobieren neuer Dinge, voneinander Lernen und einfach nur Sein einlud. Aus dieser Erfahrung und unter Beibehaltung der Leichtigkeit und des sicheren Raumes speist sich seine Vision für die sexpositive Community. Diese soll eine bunte Vielfalt von Menschen beherbergen, die aus ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten voneinander lernen. So soll eine Community entstehen, in der verschiedene Kinks, Vorlieben, Identitäten und Gruppierungen nebeneinander existieren und Schnittmengen bilden können. Diese Einheit soll auf dem geteilten Menschenbild der feministischen Sexpositivität basieren.

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