Neotantra: Eine moderne Interpretation der uralten Lehre

10. September 2024
Ingo
Spiritualität | Tantra

Neotantra ist eine Bewegung, die die alte tantrische Tradition aufgreift und sie in einen modernen, westlichen Kontext überführt. Obwohl es sich auf die traditionellen Wurzeln des Tantra stützt, stellt Neotantra eine eher sexualisierte Version des ursprünglich spirituell ausgerichteten Weges dar. Doch was genau ist Neotantra, wie hat es sich entwickelt, und wie unterscheidet es sich vom traditionellen Tantra? In diesem Artikel erkunden wir die Ursprünge, die einflussreichen Personen, die Abende und Workshops sowie die Frage, ob Tantra auch ohne Spiritualität existieren kann.

Ursprünge des Neotantra

Während traditionelles Tantra in Indien vor mehr als 1500 Jahren entstand, hat Neotantra seine Wurzeln im 20. Jahrhundert und wurde stark von der westlichen Kultur und Philosophie geprägt. Es entwickelte sich insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren, als die sexuelle Revolution in Europa und Nordamerika auf der Suche nach neuen Wegen zur sexuellen Befreiung war. In dieser Zeit entdeckten viele spirituelle Lehrer*innen, Reisende und Suchende Tantra auf ihren Reisen nach Indien und brachten es nach Europa und in die USA.

Dabei wurden die ursprünglichen spirituellen Aspekte des Tantra oft zugunsten einer stärkeren Fokussierung auf die sexuelle Energie und Intimität verändert. Neotantra legt den Schwerpunkt nicht so sehr auf die spirituelle Transformation durch Sexualität, sondern auf die Sexualität selbst als Mittel zur Heilung, Selbsterforschung und Beziehungsverbesserung.

Wichtige Personen und Strömungen bei der Entwicklung des Neotantra

Mehrere prominente Personen trugen zur Verbreitung und Entwicklung von Neotantra bei:

  • Osho (Bhagwan Shree Rajneesh): Einer der einflussreichsten Lehrer im Bereich Neotantra war Osho, ein indischer spiritueller Führer, der Tantra als Mittel zur sexuellen Befreiung und spirituellen Erleuchtung betrachtete. Seine Lehren stellten einen Bruch mit traditionellen Strukturen dar und legten den Fokus stark auf das individuelle Erlebnis von Sexualität als transformierende Kraft. Allerdings wurde Osho auch stark kritisiert, da es in seiner Gemeinschaft zu Fällen von Machtmissbrauch und ethisch fragwürdigem Verhalten kam.
  • Margot Anand: Sie gilt als eine der wichtigsten westlichen Lehrerinnen des Neotantra. Ihre Arbeit führte zu einer tiefen Auseinandersetzung mit der Verbindung von Sexualität und Spiritualität. Mit ihrem Buch The Art of Sexual Ecstasy popularisierte sie die Vorstellung, dass Sexualität sowohl eine körperliche als auch eine spirituelle Praxis sein kann.
  • Mantak Chia: Ein weiterer bedeutender Lehrer, der westliche Sexualpraktiken mit taoistischen Lehren verbindet. Seine Methoden lehren die Kontrolle und Kultivierung sexueller Energie, um körperliche Gesundheit und spirituelles Wohlbefinden zu fördern.

Im Laufe der Zeit entwickelten sich verschiedene Strömungen im Neotantra, von spirituell geprägten Bewegungen, die die ursprünglichen tantrischen Lehren respektierten, bis hin zu eher körperzentrierten Ansätzen, bei denen der Fokus stärker auf der Selbsterfahrung und sexuellen Heilung lag.

Tantra: Von spirituell bis rein körperlich

Tantra existiert heute auf einem breiten Spektrum – von einer hauptsächlich spirituell geprägten Praxis bis hin zu 100% Neotantra, das jegliche spirituellen Aspekte zugunsten von körperlichen und sexuellen Erfahrungen weglässt. Traditionelles Tantra sieht Sexualität als Teil eines Weges zur spirituellen Erleuchtung, während Neotantra häufig als Werkzeug zur Erkundung von Intimität, sexueller Heilung und Selbsterfahrung genutzt wird. Auf dieser Skala können Menschen je nach Interesse und Bedürfnis den passenden Zugang finden, sei es mit einem spirituellen Hintergrund oder einem Fokus auf die körperliche Dimension.

Wie sehen (Neo-)Tantrische Abende und Workshops aus?

Tantrische Abende oder Workshops sind vielfältig und unterscheiden sich je nach Ausrichtung und Zielgruppe stark. In einem typischen Neotantra-Workshop stehen jedoch einige zentrale Elemente im Vordergrund:

  • Atemarbeit (Pranayama): Atemübungen helfen dabei, sich zu entspannen und die Lebensenergie (Prana) zu aktivieren. Der Atem wird oft synchron mit dem Partner oder der Partnerin genutzt, um eine tiefere Verbindung herzustellen.
  • Bewusste Berührung: In vielen Workshops wird besonderer Wert auf das bewusste Erleben von Berührung gelegt. Dies kann in Form von sinnlichen Massagen oder einfachen Handauflege-Techniken geschehen, bei denen der Fokus auf Achtsamkeit und Präsenz liegt.
  • Augenkontakt: In Tantra ist Augenkontakt ein mächtiges Mittel zur Verbindung. Viele Übungen beinhalten lang anhaltenden Blickkontakt zwischen den Teilnehmer*innen, um die Intimität und das emotionale Erleben zu vertiefen.
  • Chakra-Arbeit: Einige Workshops integrieren Übungen zur Aktivierung und Harmonisierung der Chakren, um den Energiefluss im Körper zu verbessern.
  • Meditation und Mantras: Einige Abende beinhalten geführte Meditationen oder das Wiederholen von Mantras, um den Geist zu beruhigen und den Fokus auf das Innere zu lenken.

Die Atmosphäre eines solchen Abends ist oft ruhig, achtsam und respektvoll. Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen sich sicher und offen fühlen, um neue Erfahrungen zu machen und Grenzen zu erkunden. Je nach Ausrichtung kann ein Workshop mehr körperlich oder mehr spirituell ausgerichtet sein.

Wie erkenne ich, ob eine Schule spirituell oder weniger spirituell ist?

Es gibt klare Unterschiede zwischen Schulen oder Lehrer*innen, die eine stärker spirituell geprägte Form des Tantra lehren, und solchen, die sich mehr auf körperliche und sexuelle Aspekte konzentrieren. Hier sind einige Hinweise, um dies zu erkennen:

  • Sprache und Fokus: Spirituell orientierte Schulen werden oft Begriffe wie „Chakren“, „Energiearbeit“ und „Erleuchtung“ verwenden. Sie werden auch auf die Verbindung zu alten Traditionen und spirituellen Zielen hinweisen. Weniger spirituell orientierte Schulen hingegen legen den Fokus oft auf Sexualität, Intimität und persönliche Heilung, ohne diese Begriffe zu verwenden.
  • Inhalte des Programms: Achte darauf, ob Meditation, Mantras und spirituelle Rituale ein wesentlicher Bestandteil des Programms sind. Spirituelle Schulen werden häufig tiefer in diese Praktiken eintauchen, während körperzentrierte Schulen sich eher auf Atemübungen, Berührungspraktiken und sexuelle Techniken konzentrieren.
  • Ziel der Praxis: Spirituelle Schulen betonen oft die Transformation des Bewusstseins und den Weg zur Selbstverwirklichung oder Erleuchtung. Weniger spirituelle Ansätze legen Wert auf körperliche Heilung, persönliche Entwicklung und Beziehungsverbesserung.
  • Erfahrungen der Lehrerinnen: Informiere dich über die Ausbildung und den Hintergrund der Lehrerinnen. Viele spirituell ausgerichtete Lehrer*innen haben eine tiefgehende Verbindung zu den Ursprüngen des Tantra und können auf spirituelle Traditionen verweisen, während andere vielleicht eine therapeutische oder körperorientierte Ausbildung haben.

Sexuelle Heilung durch Tantra

Tantra wird oft als Mittel zur sexuellen Heilung angesehen, besonders im Neotantra, das sich stärker auf körperliche und emotionale Blockaden konzentriert. Für Menschen, die sexuelle Traumata oder Schamgefühle heilen oder ihre sexuelle Energie bewusster erleben möchten, kann Tantra eine tiefgreifende Methode sein.

  • Für wen ist das? Tantra eignet sich besonders für Menschen, die ihre Sexualität bewusst erforschen und Blockaden auflösen möchten, sowie für Paare, die ihre Intimität vertiefen wollen. Auch Personen, die ihre emotionale Verbindung zur eigenen Sexualität stärken möchten, profitieren von dieser Praxis.
  • Wie effektiv ist das? Die Wirksamkeit von Tantra zur sexuellen Heilung hängt stark von den individuellen Bedürfnissen und der Erfahrung der Lehrer*innen ab. Viele berichten von positiven Veränderungen in ihrem sexuellen Erleben und emotionalen Wohlbefinden, insbesondere durch die Integration von Achtsamkeit, Atemarbeit und bewusster Berührung.
  • Chancen und Gewinne: Tantra bietet die Möglichkeit, emotionale Wunden zu heilen, die Verbindung zu sich selbst und anderen zu stärken und ein neues Verständnis von Sexualität zu entwickeln. Es fördert Achtsamkeit und Präsenz, was in Beziehungen und im eigenen Leben oft zu mehr Zufriedenheit führt.
  • Kritik und Risiken: Es gibt jedoch auch Risiken. In einigen Fällen können unerfahrene Lehrerinnen oder unsichere Umgebungen zu emotionaler Überforderung führen. Es ist wichtig, eine vertrauenswürdige Schule oder Lehrerin zu wählen, um sicherzustellen, dass ethische Standards eingehalten werden. Wie in anderen Bereichen gibt es eine Dunkelziffer von Fällen, in denen es zu Missbrauch oder Manipulation kam. Plattformen wie Trusted Bodywork bieten eine Liste seriöser Anbieter, bei denen Transparenz und Sicherheit an oberster Stelle stehen.

Fazit

Neotantra ist eine tief transformative Praxis, die Spiritualität, Achtsamkeit und Sexualität auf eine einzigartige Weise miteinander verbindet. Es ermöglicht Menschen, sich selbst besser zu verstehen, emotionale Blockaden zu lösen und tiefere Verbindungen zu anderen aufzubauen. Ob mit oder ohne spirituelle Ausrichtung – Tantra bietet ein breites Spektrum an Möglichkeiten, das eigene Leben auf eine

erfüllendere Weise zu gestalten. Dennoch ist es wichtig, sich gut über Lehrer*innen und Institutionen zu informieren, um einen sicheren und respektvollen Raum für diese Erfahrung zu gewährleisten.

Autor*in

Ingo

Ingo (er/ihm) ist der Initiator der 6+ Community in Stuttgart. In Berlin erlebte er sexpositive Räume, in denen selbstbewusste, selbstwirksame und raumbewusste Personen lebten, die die Vielfalt der Menschen vollständig akzeptierten. Diese Räume zeichneten sich dadurch aus, dass das Setzen von Grenzen und das Akzeptieren eines "Nein" mit Leichtigkeit und in einer Atmosphäre der Unbeschwertheit geschah. Diese Basis schuf eine spürbare Sicherheit für alle Beteiligten. Diese Sicherheit ermöglichte es, dass aus den übereinstimmenden Bedürfnissen und Wünschen von zwei oder mehr Personen Situationen entstanden, die die schönsten zwischenmenschlichen Aktivitäten beinhalteten. Diese Aktivitäten konnten die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Menschen stillen und trugen zu einer glücklichen, entspannenden Atmosphäre bei, die zum Reflektieren, Ausprobieren neuer Dinge, voneinander Lernen und einfach nur Sein einlud. Aus dieser Erfahrung und unter Beibehaltung der Leichtigkeit und des sicheren Raumes speist sich seine Vision für die sexpositive Community. Diese soll eine bunte Vielfalt von Menschen beherbergen, die aus ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten voneinander lernen. So soll eine Community entstehen, in der verschiedene Kinks, Vorlieben, Identitäten und Gruppierungen nebeneinander existieren und Schnittmengen bilden können. Diese Einheit soll auf dem geteilten Menschenbild der feministischen Sexpositivität basieren.

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