Die Karte der Nicht-Monogamie: Ein Einblick in Beziehungsvielfalt

16. Juli 2024
Ingo
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Die Karte der Nicht-Monogamie: Ein Einblick in Beziehungsvielfalt

In einer Gesellschaft, in der Monogamie als das einzig akzeptierte und sichtbare Beziehungsmodell gilt, haben viele Menschen kaum Wissen über die vielfältigen Möglichkeiten nicht-monogamer Beziehungen. Oft wird nicht-monogames Verhalten auf Fremdgehen oder Betrug reduziert, doch diese Sichtweise greift viel zu kurz. Doch woher soll das Wissen kommen, wenn Monogamie von klein auf als Norm gelehrt wird und in den Medien meist als einziges Modell dargestellt ist?

Wie entwickelt sich das Verständnis von Beziehungen?

Die mediale Welt ändert sich in den letzten Jahren. Immer mehr Filme, Bücher und Podcasts über Nicht-Monogamie kommen auf den Markt. Jedoch steht das monogame Narrativ immer noch im Zentrum einer guten Moraldefinition. Fremdgehen ist einerseits in aller Munde, aber genauso verpönt – verständlich, denn dabei werden Menschen verletzt. Wenn wir jedoch die Blicke, Finger, Lippen oder sonstige Körperteile nicht von anderen lassen können, wäre es dann nicht besser, darüber zu reden und eine Regelung zu finden, die für alle Beteiligten die Bedürfnisse in einem größeren Umfang befriedigt und dazu führt, dass niemand verletzt wird?

Was bedeutet Sexpositivität im Kontext von Nicht-Monogamie?

Sexpositivität bedeutet, Menschen mit all ihren Bedürfnissen, Arten wie sie Sex haben, und wie sie ihr Geschlecht definieren, zu akzeptieren. Sexpositivität kennt wenig Ausgrenzung. Eine zentrale Voraussetzung ist jedoch, dass alles, was Menschen miteinander tun, in beiderseitigem Einvernehmen geschieht. Aus dieser Sichtweise erwächst auch die Akzeptanz, dass es egal ist, wie viele (oder ob überhaupt) Partner jemand hat, wie diese Partner definiert werden und was sie miteinander machen. Kein Mensch hat das Recht, eine Beziehungsform, Beziehungsart oder Art der Sexualität von außen zu bewerten. Niemand darf andere mit Slutshaming oder anderen Diskriminierungen belästigen oder abwertende Kommentare wie „Die/Der ist ja sowieso nicht beziehungsfähig“ machen.

Genauso sind monogam lebende Menschen aus der Sicht der Sexpositivität völlig in Ordnung. Fremdgehen, Cheating oder sonstige Verhaltensweisen sind jedoch nicht okay, da sie nicht im Einvernehmen aller betroffenen Personen passieren. Bei Don’t-Ask-Don’t-Tell-Beziehungen werden jedoch viele Personen nervös, da diese Beziehungsform oft als Ausrede verwendet wird, ohne dass es in Wahrheit ein Gespräch darüber gegeben hat. Dies zu überprüfen fällt einer in eine bestehende Beziehung kommende Person auch schwer. Daher raten einige von dieser Beziehungsform ab. Dennoch gilt: Jede Person ist mit ihrer Beziehung oder auch Nicht-Beziehung okay, wie sie ist!

Persönliche Erfahrung: Der Weg zur Selbstakzeptanz

Mein Weg von einer monogam lebenden Person hin zu dem, wie ich heute lebe, hat mich an einer Reihe von Glaubenssätzen und Ängsten vorbeigeführt. Die Ängste waren jedoch nicht auf mich bezogen, meiner Sicherheit oder sonstiges, sondern: “Wie werde ich von anderen gesehen?”, “Bin ich okay, wie ich bin?”, “Was denkt der Nachbar…?” Ich hatte, kurz gesagt, Angst um meinen Ruf und die Unsicherheit, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden oder unangenehme Angebote von fremden Menschen abwehren zu müssen. Ich wusste also instinktiv, dass die Welt da draußen wenig sexpositiv ist, mich mit meinem Anderssein nicht akzeptieren konnte oder wollte. Meine Erfahrung war, dass Menschen einen beurteilen, je nachdem wie weit man vom “Normalen” abweicht. Aus diesem Grund kann ich heute den Wunsch, “normal” zu sein, sehr gut nachvollziehen. Aber je mehr ich mich mit dem Normal-Begriff auseinandergesetzt habe, desto mehr habe ich gemerkt, dass es kaum Menschen gibt, die “normal” sind, sondern alle mehr oder weniger eine normale Rolle spielen, um in den eigenen vier Wänden es dann doch anders zu machen. Jedoch mit dem Zustehen zu mir selbst ist auch mein Selbstbewusstsein gestiegen. Und auch meine Fähigkeit, für mich einzustehen, Nein zu sagen. Ich bin eine Person geworden, die ich mag. Und habe Menschen um mich herum, die die Person mögen, die ich in ihren Augen bin… Alle anderen sind mir größtenteils egal geworden.

Beziehungsvielfalt auf dem CSD Stuttgart 2022

Die Beziehungsvielfalt-Gruppe, eine Ausgründung aus der Polycommunity Stuttgart, war 2022 auf den Christopher Street Days (CSD) in der Region Stuttgart vertreten und hat eine Karte erstellt, die eine Vielzahl nicht-monogamer Möglichkeiten zeigt. Diese Karte erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder eine definitive Definition. Während der Vorbereitung haben wir festgestellt, dass selbst unser Autorenteam in vielen Definitionen uneinig ist. Doch das ist in Ordnung, denn das Ziel ist es, einen ersten Einblick zu gewähren und Gespräche zu eröffnen.

Wie können wir Gespräche über Beziehungsvielfalt anregen?

Unsere Karte hat bei vielen Paaren Diskussionen darüber angestoßen, was sie unter den einzelnen Kategorien verstehen und wie sie sich dabei fühlen. Dieses Werkzeug hat Gespräche ermöglicht, die zuvor mangels Anhaltspunkten nicht möglich waren. Ideal wäre es doch, wenn jede Person vor einer Interaktion klar sagen könnte, welche Art von Beziehung oder zwischenmenschlicher Interaktion sie sich wünscht. Solche Klarheit kann Missverständnisse und Verletzungen vermeiden und zu erfüllenderen und authentischeren Verbindungen führen.

Viel Spaß beim Entdecken und Diskutieren!

Wir laden euch herzlich ein, die Karte der Nicht-Monogamie zu erkunden und tiefgründige Gespräche mit euren Beziehungspartnern oder anderen wichtigen Menschen in eurem Leben zu führen. Entdeckt gemeinsam, welche Möglichkeiten es gibt und wie ihr eure Beziehungen individuell gestalten könnt. Wenn du gerade deine Beziehungsformen erkundest, kannst du in unserer Chat-Community oder bei einem Meet-Up von den Erfahrungen anderer Menschen profitieren. Oder schau auch gerne mal im Bereich der Seminare und Workshops vorbei, ob dein Thema dort besprochen wird.

Viel Spaß beim Schmökern und Diskutieren!
 

 

Die Karte der nicht Monogamie

Disclaimer für die Karte der Nicht-Monogamie

  • Die Aussagen auf dem Bild spiegeln individuelle Perspektiven von Personen wider, die ihre Beziehungserfahrungen teilen.
  • Die Übersetzungen sind teilweise wörtlich 1:1 vorgenommen. Deutschsprachige Personen könnten bestimmte Begriffe anders formulieren.
  • Keine endgültige Definition: Wir haben uns bemüht, unterschiedliche Blickwinkel auf einzelne Beziehungskonzepte darzustellen. Letztendlich definieren die Personen ihre Beziehung und das dazugehörige Label selbst.

Autor*in

Ingo

Ingo (er/ihm) ist der Initiator der 6+ Community in Stuttgart. In Berlin erlebte er sexpositive Räume, in denen selbstbewusste, selbstwirksame und raumbewusste Personen lebten, die die Vielfalt der Menschen vollständig akzeptierten. Diese Räume zeichneten sich dadurch aus, dass das Setzen von Grenzen und das Akzeptieren eines "Nein" mit Leichtigkeit und in einer Atmosphäre der Unbeschwertheit geschah. Diese Basis schuf eine spürbare Sicherheit für alle Beteiligten. Diese Sicherheit ermöglichte es, dass aus den übereinstimmenden Bedürfnissen und Wünschen von zwei oder mehr Personen Situationen entstanden, die die schönsten zwischenmenschlichen Aktivitäten beinhalteten. Diese Aktivitäten konnten die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Menschen stillen und trugen zu einer glücklichen, entspannenden Atmosphäre bei, die zum Reflektieren, Ausprobieren neuer Dinge, voneinander Lernen und einfach nur Sein einlud. Aus dieser Erfahrung und unter Beibehaltung der Leichtigkeit und des sicheren Raumes speist sich seine Vision für die sexpositive Community. Diese soll eine bunte Vielfalt von Menschen beherbergen, die aus ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten voneinander lernen. So soll eine Community entstehen, in der verschiedene Kinks, Vorlieben, Identitäten und Gruppierungen nebeneinander existieren und Schnittmengen bilden können. Diese Einheit soll auf dem geteilten Menschenbild der feministischen Sexpositivität basieren.

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